Frei nach dem Motto: „Eine kleine Reise zu machen ist besser, als nur von einer großen zu träumen“, habe ich nie meine Kilometer gezählt. Auch über meine Motorräder habe ich nie Buch geführt. Es müssen zwischen 58 und 65 Stück gewesen sein (Stand: November 2015). Mopeds und Mofas nicht mitgezählt. Warum ich nahezu alle Reisen mit Zweirädern gemacht habe, erklärt der englischer Spruch: „Four wheels move the body. Two wheels move the soul“. Nichts trifft auf mich besser zu.

Woran ich mich aber gut und gern erinnere, sind die Bikes, mit denen ich viel erlebt habe. Da wären vier Yamaha XT 500, die mich zwischen 1985 und 1993 durch Europa trugen, meine XT 550, die mich auf meiner ersten Afrikareise begleitete, eine Yamaha XTZ 660, mit der ich zwischen 1996 und 1999 rund 80.000 Kilometer in Europa, Asien und Afrika zurück gelegt habe, und letztlich meine geliebte Yamaha XT 600 Ténéré, Typ 34 L, Baujahr 1984. Wie gern hätte ich sie damals neu gekauft, doch wie immer war das Geld knapp. Als sie 1987 in meinen Besitz wechselte, hatte sie 12.400 Kilometer auf dem Buckel. Zehn Jahre später standen 243.700 Kilometer auf der Uhr. Die Maschine trug mich durch Europa, Afrika und Australien. Sie steht heute im Eingangsbereich meines kleinen Museums, umrahmt von Bildern aus einer Zeit, in der man weiter nichts besaß als Schlafsack, Zelt, Isomatte, ein paar Ersatzteile und die grenzenlose Freiheit…
Doch dieser Begriff trügt. Janis Joplin sang im Song „Me and Bobby Mcgee“ die Textzeile: „Freedom is just another word for nothin‘ left to lose“.
Meiner Meinung und Erfahrung nach ist es schwer, diesen Zustand zu erreichen. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob er unbedingt anstrebenswert ist. Nichts zu haben, befreit einen auf der einen Seite von der Angst, etwas verlieren zu können. Auf der anderen muss man jedoch ständig für und um sein Leben kämpfen, nennen wir es arbeiten, um zu existieren.

Ich musste auf vielen meiner Reisen arbeiten. Habe Dingo-Zäune in Australien gezogen und geflickt, mich monatelang unter die Opal- und Saphirsucher down under gemischt, Bootsmotore in Südafrika repariert, Weinfiltrationsanlagen in Südeuropa gewartet, als Chauffeur in Nigeria gearbeitet und Gold in Ghana geschürft.

Als mich ein junger Mann vor einigen Monaten auf einem Globetrotter-Treffen gefragt hat, was meine wichtigste Erkenntnis nach zehn langen Jahren on the road ist, musste ich nicht lange überlegen: „Du nimmst dich immer mit. Flucht darf nie der Grund des Aufbruches sein.“

Reisen mit offenen Augen und Ohren sowie das Schreiben darüber sind meine Leidenschaften. Dabei war und ist mir der Bericht über das „Abenteuer Alltag“ stets lieber, als über eine Weltreise zu schreiben. Dem weisen Spruch, dass jede große Reise mit dem ersten Schritt beginnt, ist nichts hinzu zu fügen. Nachfolgend finden Sie hier bislang unveröffentlichte Reportagen.

Viel Spaß beim Schmökern !

Bamee Moo – 12000 Kilometer für eine Nudelsuppe

Ich habe sie alle genervt. Vom ersten Tag meiner Rückkehr aus dem Thailand-Urlaub. Und das war heute vor fast exakt einem Jahr. Jedem, der es nicht hören wollte, hab‘ ich von ihr vorgeschwärmt: Bamee Moo – eine thailändische Suppe, die ab Dämmerungsbeginn direkt an den Straßen in einer Art überdachter Schubkarre gekocht und ausgeschenkt wird. Bei 30 Grad im Schatten.
Jetzt stehe ich am Bahnhof, das Thermometer zeigt minus sieben Grad. Ich warte auf den Zug, der mich von Stuttgart zum Frankfurter Flughafen bringt. In spätestens 36 Stunden werde ich wieder an diesem Suppenstand auf der Insel Koh Samui stehen. Dann wird der Geschmack, der mich ein Jahr lang wie ein Schatten verfolgt hat, in meinen Gaumen zurückkehren. Noch ist das schwer vorstellbar. Feuchte Kälte durchdringt meine leichte Kleidung, der Schneematsch hat die Mokassins aufgeweicht. Einsteigen in den ICE, Endziel Hamburg-Altona, über Frankfurt, Kassel und Göttingen. Freies Abteil, weicher Sitz, am Fenster rast die Welt vorbei.
Exakt 358 Tage sind seit meinem Suchtbeginn vergangen. Damals, an meinem zweiten Urlaubsabend, hat mich Neugier aus dem sterilen Urlaubsressort gelockt, und Bamee Moo mich vom ersten Löffel an gefangen genommen. Doch es war nicht nur der Geschmack. Es war ein Stück Lebensgefühl. Etwas, von dem ich in meiner Wohnwabe im Stuttgarter Osten nie gehört hatte, geschweige denn es spüren konnte: 2,5 Zimmer, 64 Quadratmeter, Bad mit WC. Fenster mit Blick auf die Stahlbetonwand des Hauses gegenüber. Umgeben vom winterlich belastenden Grau der Wolken, die bis auf den Boden zu reichen scheinen. Ein Abschied ohne Schmerz.
Mannheim, Zwischenstopp. Dreckige Lagerhallen, verrottete Schienenstränge, zerlegte Waggons, in der Ferne ein Funkturm. Noch wenige Minuten bis zum Flughafen. Wird sie wohl noch dort verkauft, am selben Ort? 50 Meter vor einer kleinen Kreuzung, Plastikstühle, Klapptische auf nacktem Boden, der sich bei Regen in glitschigen Morast verwandelt. Von derselben Köchin, mit dem gleichen, unnachahmlichen Geschmack? Ein Gaumengenuss, der scheinbar alle Sinne betört. Etwas, das sich im Unterbewusstsein verankert, mich wie ein Stahlseil umschlingt, und zurück in die Urlaubsflucht zerren möchte.
Allabendlich gegen 19 Uhr, wenn meine Gedanken aus dem Büro seicht abklingen wie eine Geigensinfonie, und ich auf ein Abendessen starre, das ich mir meistens schnell zusammenmixe, schlägt Wehmut über mir zusammen wie eine riesige Welle. Jeder Biss ist da ein Druck aufs Knöpfchen der Erinnerung. Meine Kücheneinrichtung verschwimmt vor meinen Augen. Ich sehe wieder eine fremde, exotische Welt, sprudelndes Leben. Und ich fühle mich mittendrin. Auf dem kippelnden Stuhl vor einem abgegriffenen Tisch, neben einem spärlich beleuchteten Suppenstand. Ein paar Handbreit entfernt vom tosenden Verkehr, der sich im Nadelöhr des Städtchens Mae Nam automatisch verlangsamt. Es riecht nach den Gewürzen der Garküche, nach Sauna, Schweiß und Meer. Es riecht nach Leben.
Dieser Geruchsmix ist sowohl in meiner Wohnung, als auch jetzt hier im Zug schwerlich zu erahnen. Draußen verwischen Pferdekoppeln, blassgrüne Wiesen, spiegelnde Pfützen, flurbegradigte Bäche, an deren Ufern sich Weiden eingenistet haben, und graubraune Teerbänder, auf denen Autos rollen, die selbst am Tag mit Licht fahren. Hoch aufragende Betonschlote, die ihre Pest in die Luft wirbeln. Lkw-Karawanen, Stahlhallen, Containerberge. In der Ferne der Odenwald, aus der Distanz nichts weiter als eine Hügelkette, die wirkt, als wäre sie aus einen Stück Schatten geschnitzt.
12.38 Uhr: Ankunft am Flughafen. 13.25 Uhr: einchecken bei Emirates, Flug EK46 nach Dubai. Zweimaliges Röntgen des Handgepäcks. 14.25 Uhr: Abflug. Flughöhe 11000 Fuß: In den ovalen Löchern des Flugzeugrumpfs wandert eine glitzernde, von der Sonne bestrahlte Wolkendecke, die aussieht wie eine Eislandschaft. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Eisbären und Pinguinen, kann es immer noch nicht fassen, dass mich in weniger als 18 Stunden wohlige Wärme umschließt. 5 Stunden, 20 Minuten berechnete Flugzeit bis zum Zwischenstopp in Dubai. Die zu zerstreuen, steht eine Auswahl von 600 digitalen Kanälen bereit. 200 Filme, unzählige Musikalben. Es gelingt.
Hart setzt die Boeing auf dem International Airport Dubai auf. 3.25 Stunden Aufenthalt. Das Shoppen werde ich mir für den Rückweg sparen. Es ist ein Spaziergang unter goldenen Palmen, durch eine Welt voller Glamour. Porsche. Armani. Gucci. Chanel. Jaeger-LeCoultre. Im zweiten Stock des Shopping-Eldorados reihen sich diverse Imbisse aneinander. McDonalds, Pizza-Hut, Indian-Food, pakistanische Köstlichkeiten, französische Cuisine. Am Ende des kulinarischen Catwalks, von dem man durch eine opulente Glasfläche Blick auf einen Teil des riesigen Fluggeländes hat, auch eine Art thailändisches Fast-Food-Restaurant. Im Angebot: Nudelsuppe. Ich stehe gebannt vor dem Tresen. Starre. Warte. Kämpfe mit mir. Soll ich, oder soll ich nicht?
Bis heute hat es keine andere mit dem Original von der Straßenkreuzung aus Mae Nam aufnehmen können. Seit Suchtbeginn habe ich Bamee Moo in rund 30 thailändischen Restaurants in ganz Deutschland geordert und selten bekommen. Wenn, dann war es immer ein Reinfall. Fade. Bisslos. Verwürzt. Eine Flamme ohne Feuer. Selbst auf meinem Geburtstag, als ich die Suppe nach einem Rezept aus dem Internet selbst zubereitet habe, hatte diese geschmacklich ungefähr so viel mit dem Original gemein, wie ein Gummibärchen mit einer Ölsardine. Dabei hatte ich mir größte Mühe gegeben. War auf der Suche nach frischen Kräutern einen Tag durch Stuttgart gehetzt, und hatte den Sud schon einen Tag zuvor angesetzt, damit er das richtige Aroma bekommt. Doch erstens sind dieselben Kräuter nicht so aromatisch wie in Thailand, zweitens ist die Nudelqualität ausschlaggebend, drittens konnte ich nirgendwo gekochtes und speziell mariniertes Fleisch bekommen, und letztlich bleibt es immer ein Geheimnis, was und wie viel in den Sud kommt, der die einzelnen Zutaten letztlich übergießt und die kulinarischen Puzzlestücke zu einem köstlichen Gesamtbild zusammenfügt.
6,5 Stunden Weiterflug bis Bangkok. Während des Fluges schielt jeder nach seinem Nachbarn, beobachtet, wie er den Joy-Stick, der den Fernsehcomputer führt, bedient. Ein stiller Wettkampf entbrennt darüber, wer sich durch das Menü aus abertausend Möglichkeiten zuerst ans Ziel manövriert. Oder sich die Mahlzeiten möglichst ohne zu kleckern oder seinem Sitznachbarn den Ellenbogen in die Nieren zu bohren, einverleiben kann. Trotz der Enge in der Economy-Class gelingt es mir, ein wenig zu relaxen. Ich döse, sehe dampfende Suppen, die im Licht vorbei rauschender Autos aufblitzen. Sehe Menschen, denen es gelingt, per Stäbchen jede Nudel einzeln zu schnappen, sie zu drehen und elegant in den Mund zu führen. Bamee Moo ist neben Pad Thai, einem im Wog gegarten Mix aus Glasnudeln, Ei, Huhn und diversen Gewürzen, das zweite Nationalgericht des Landes. Mit Preisen zwischen 20 und 35 Baht (40 bis 75 Cent) ist die Suppe darüber hinaus für jeden erschwinglich. Zum Vergleich: Eine Dose Bier kostet 40 Cent, der Liter Benzin ist für 60 Cent zu haben. Handwerker verdienen zwischen 6000 bis 10000 Baht (rund 130 bis 230 Euro) pro Monat. Bamee Moo gilt als Armeleuteessen. Ein Gericht, das ursprünglich aus China stammt, und weder in den Urlaubsressorts noch in den meisten thailändischen Restaurants auf der Karte steht. So ist es nur verständlich, dass mich meine Freundinnen für verrückt erklärt haben: 12000 Flugkilometer, 13 Stunden zusammengefaltet in einer Sitzbatterie wie eine Legehenne ausharren, 24 Stunden beinah ohne Schlaf – für dünne Teigwaren, die im Wasser schwimmen. Verrückt? Vielleicht. Ansichtssache. Doch was ist daran falsch, Träume zu haben und sie zu verwirklichen?
Weiche Landung in Bangkok, das völlig unter einer Dunstglocke begraben ist. Aussteigen. Langer Gang. Einreisestempel. Für einen Aufenthalt bis zu vier Wochen benötigt man als Deutscher Staatsbürger kein Visum. Gepäckausgabe. Letzte Tür. Noch eine Stunde ausharren, dann wird mich eine Boeing per 50-minütigem Flug nach Koh Samui bringen. Der Flughafen der Insel galt lange als einer der kleinsten weltweit. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass Bangkok Airways, denen die 1440 Meter kurze Piste gehört, ihn mit einer relativ großen Boeing anfliegt. Erst beim Durchstoßen der Dunstglocke wird mir klar, wie dicht ich meinem Traum auf den Fersen bin. Unter mir spannt sich die glitzernde Decke des Meeres bis zum Horizont. An dessen Ende mich ein zweiwöchiger Urlaub unter Palmen mit Bamee Moo erwarten. Ich möchte jubeln, einfach losschreien. Vor so viel Glück.
Eigentlich ist die Suppe ein simples Gericht. Ein zwei- bisweilen dreigeteilter Topf wird von einer Gasflamme erhitzt. In dem einen Teil ist Wasser, das zum Erhitzen der Nudeln dient. In den anderen köchelt Sud. Diese sind je nach Garköchin verschieden und gelten als Geheimnis. Als Basis werden oft Knochen ausgekocht. Hinzu kommen zerstampftes, in Chiliöl eingelegtes Knoblauch, Sojasoße, Salz, in Scheiben geschnittener Kohlrabi, zerstückelte Riesenpaprika und diverse Gewürze. Die Nudeln liegen offen aus, man kann bis zu sieben Sorten wählen. Sie werden in einer Schöpfkelle rund eine Minute im kochenden Wasser geschwenkt. Nebenbei werden in einer Schale die weiteren Bestandteile trocken aufgeschichtet. Grünes, geschnittenes Stangengemüse, grüner Chinakohl, gewürfelte Frühlingszwiebeln, Sojasprossen, zerkleinerte Erdnüsse, in Öl frittierter Knoblauch, Blätter der Thai-Petersilie, ein Spritzer Fischsoße als Salzersatz, eine Prise Zucker. Hinzu kommen je nach Kundenwunsch Fischbällchen, Krabbenfleisch, geronnenes Blut oder gekochtes Rindfleisch. Mein Favorit: dünne Scheiben Schweinefleisch aus einem länglichen Filetstück, das zuerst gekocht und anschließend mariniert wird. Anschließend werden die Nudeln hinzu gegeben und das Ganze mit dem Sud aufgegossen. So bleibt das Gemüse knackig, die Nudeln bissfest und das Fleisch herzhaft. Alle Zutaten behalten ihren Eigengeschmack.
Es ist 16.20 Uhr als der Stahlvogel aufsetzt. Ein kleiner bunter Wagen, einer Kindereisenbahn ähnlich, bringt mich zur Gepäckausgabe. Palmen wiegen im warmen Luftstrom, der zärtlich über meine Haut streicht. Draußen vor der Gepäckausgabe warten Taxis. Zwei Stunden später, mein Gepäck ist noch nicht ausgepackt, steht verlassen im Zimmer, sitze ich auf einem wackligen Stuhl. Es ist derselbe Stuhl. Derselbe Tisch. Dieselbe Köchin.
Und derselbe, unnachahmliche Geschmack. Nussig. Scharf. Süß. Crisp. Salzig. Herzhaft. Herb. Fleischig. Frisch. Vital. Voll. Menschgedränge. Strömender Verkehr. 32 Grad, 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, in der Ferne ein Gewittersturm und die Brandung der Wellen. Um nichts in der Welt will ich jetzt woanders sein. Oder gar was anders essen.

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Fahrbericht Bugatti Veyron 16.4

Zwei Welten, ein Gefühl

Laut Presseprosa hausen im Bugatti Veyron zwei Seelen. Kann der stärkste Sportwagen der Welt tatsächlich lammfromm sein?

„Ehrlich, Sie können Ihrer Frau den Veyron anvertrauen und sie damit zum Einkaufen schicken. Er ist leicht zu fahren. Und so simpel zu bedienen wie ein Golf“, sagt Georges H. Keller, der Leiter für Öffentlichkeitsarbeit im Luxuswagen-Segment von VW. Bitte? 1001 PS, über 400 km/h, acht Liter Hubraum! Gab es irgendwann mal einen Tyrannosaurus-Rex mit Tischmanieren?
In der Tat war es eine langwierige und heikle Mission, dem extremsten Sportwagen aller Zeiten Manieren bei zu bringen. Mal drückten die ungeheuren Rotationskräfte das Getriebeöl aus den Dichtungen, platzen Achsmanschetten, weil der Druck des extrem beschleunigten Schmierfetts zu heftig wurde, dann war es zeitweise fast unmöglich, den Monstermotor ausreichend zu kühlen und lange wurden die angepeilten 400 km/h nicht erreicht. Im Mai diesen Jahres jedoch schienen alle Probleme des rund 1,16 Millionen Euro teuren Veyron 16.4 gelöst. Mehrmals hintereinander knallte der Wagen auf dem Hochgeschwindigkeitskurs in Ehra-Lessien, Kreis Gifhorn, mit über 400 km/h durch die Lichtschranke. „Und das mit den 1001 PS“, sagt Georges Keller, und winkt ab, „haben wir lässig im Griff. Der Motor ist kerngesund und leistet derzeit so um die 1050 PS. Nur für den Fall, dass mal jemand nachmisst. Technisch möglich sind rund 1500.“ Ich bin baff. Noch zehn Minuten, dann darf ich ihn fahren.
Die Luft ist kühl an diesem Septembermorgen in Molsheim bei Straßburg, dem Firmensitz Bugattis. Ein wolkenloser Himmel spannt sich über die 142000 m² Werksgelände. Dietmar Hilbig erwartet mich neben dem Wagen. Er ist verantwortlich für die Qualitätssicherung. Er ist den Veyron Tausende von Kilometern gefahren. Und er ist die Ruhe selbst. „Sie sind der Erste, der ihn in freier Wildbahn bewegen darf“, sagt Hilbig und in seiner Stimme schwingt Respekt. Respekt dem Wagen gegenüber.
Ein altes Sprichwort sagt: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Volltreffer! Der Veyron 16.4 ist ein Freudenfest der Sinne. Eine Designikone. Ein Jahrhundertentwurf. Hier kauert schiere Kraft in der Defensive. Hier duckt sich etwas, das jedem entgegen treten könnte. Der Bugatti wirkt als wäre er ausschließlich aus Rundungen zusammengesetzt, die der Windkanal geboren hat. Hilbig versteckt seine glasklaren Augen hinter einer Sonnenbrille und schwingt sich über den hohen Schweller in den Fahrersitz. Ich winde mich vorerst in den Beifahrersitz.
Das Interieur überrascht. Exklusives Leder, Sitzheizung, Front-Airbags. Kein Überangebot an Kontrollanzeigen oder Messinstrumente, wie man sie aus Flugzeugcockpits kennt, und irgendwie auch hier vermutet. Hier glänzt Luxus durch Minimalismus. Jeder Schalter, jeder Schlitz der Klimaanlage, jeder noch so winzige Winkel des Innenraums verströmt den Charme, für die Ewigkeit entwickelt und designt zu sein. Feinmechanische Arrangements à la Griffe und Schalter sind ausschließlich aus poliertem Aluminium und in dieser Ausführung einzigartig. Die Mittelkonsole, ebenfalls aus Alu, beherbergt neben einer Stereoanlage von Musikguru Dieter Burmester aus Berlin, einer Uhr, der Launch-Control-Taste, einer Warnblinkanlage und den Getriebe-Joystick auch einen eingelassenen Knopf. Es ist der Knopf, der den Anlasser aktiviert.
Können Sie sich an das Geräusch erinnern, wenn sich die Türen der Enterprise öffneten? Eine Sekunde lang ist es hier zu hören. Danach beendet der Anlasser seinen Job und das Surren der 16 Kolben gemixt mit dem Verbrennungstornado aus acht Litern Hubraum verschmilzt zu einem turbinenartigen Tosen. Hilbig stellt den Wahlhebel auf D, Automatik. Wer möchte, kann über zwei Tasten am Lenkrad auch manuell schalten. „Erst mal warm fahren“ sagt er gelassen und wir hoppeln aus dem Werkstor. 18 Liter Motoröl, Castrol 10W50, eine Spezialmischung, und 46 Liter Kühlwasser jagen derweil durch den Irrgarten des rund 720 Kilogramm schweren Motors. Dieser wird in Salzgitter bei VW gebaut, das Siebengang-Getriebe kommt aus England.
Zehn Minuten später. Dietmar Hilbig nickt kurz in meine Richtung. Und gibt Gas. Wir torpedieren eine Kreuzung. Rot, nein dunkelrot! Ich sehe das Geschoss schon auf der anderen Seite. Einen Lkw durchstoßen, im Nachhinein drei Monate Fahrverbot. Dann tritt er auf die Bremse. Es ist, als würde man bei einer Carrera-Autorennbahn den Strom abschalten. Zwei 400-Millimeter-Keramikscheiben vorn, zwei 380er hinten – auf Kommando eingekeilt von je einem Achtkolben-Bremssattel. Mein Kopf fliegt vorwärts, verkrampf stütze ich meinen Körper mit dem Fuß ab. „Der Veyron steht nach 31 Metern bei einer Vollbremsung aus 100 km/h. Ein normaler Wagen braucht knapp zehn mehr“, erklärt mir Hilbig. „Und nach weniger als zehn Sekunden steht er aus 400 km/h.“
400 km/h. Ich frage mich, wie sich das anfühlt. Doch um Topspeed zu erreichen, müsste man den Wagen vor Fahrtantritt erst mit einem zweiten Zündschlüssel, dem Speed-Key, scharf machen. Dann senkt sich das Fahrwerk, von 125 Millimetern Bodenfreiheit bleiben lediglich 60 übrig, ein Heckspoiler fährt aus und sorgt für mehr Anpressdruck und somit stärkere Bodenhaftung. Im „normalen“ Betrieb wird der Veyron bei 360 km/h abgebremst. Vergleichsweise behutsam rollen wir zu einer Autobahnauffahrt. Was dann geschieht, dafür gibt es nur ein Wort: Erbarmungslos. Links im Armaturenbrett ist neben Drehzahlmesser und Tacho auch eine PS-Anzeige eingelassen. Die Skala reicht bis 1001. Ihr Zeiger schnellt hoch, mein mitgebrachtes Mineralwasser drückt sich aus der Büchsenöffnung, vier Reifen radieren ihre Autogramme. Schaltvorgänge sind kaum spürbar, eine Doppelkupplung sorgt für optimalen Kraftfluss und eliminiert Lastwechselreaktionen. Alles egal. Denn die Aussenwelt mutiert zu einem Tunnel aus diffusen Farbstrichen. Nach nur 2,5 Sekunden stehen 100 km/h auf dem Tacho. Innerhalb von 16,7 knackt der Veyron die 300er-Marke. Und fast wie auf Knopfdruck steht man wieder. Dies hier ist kein Autofahren mehr. Das ist fliegen auf der Straße.
Fahrerwechsel. Meine Hände sind feucht, die Herzfrequenz erhöht. Wir stehen irgendwo mitten im Elsaß. Über dem frei liegenden Motor pulsiert Hitze. Meine linke Hand kurbelt am Lenkrad, die Rechte sucht den Rückwärtsgang. Es ist verrückt, aber es braucht nur einen zarten Babyhanddruck, und der Gang ist drin. Der Wendekreis des Sportboliden gleicht dem eines Kleinlasters. Die ersten Meter überraschen. Die Lenkung ist wundersam leicht und direkt, der Pedalweg nahezu identisch mit dem eines VW Golf. Auf den ersten 20 Prozent passiert praktisch nichts unvorhersehbares. Es könnten diejenigen sein, mit denen Ehefrauen einkaufen fahren, denke ich. Nicht, das sich zwischen 1000 und 2000 Touren Golf-Feeling einstellt, aber das Oh-Gott,-bitte-hilf-mir-Gefühl bleibt aus.
Ab 2200 Touren stellt es sich ein. Und zwar ausschließlich, wenn man das Gaspedal grobmotorisch durchtritt. Dann generiert der Motor gigantische 1250 Nm, pusten die vier Turbolader die Macht der 1000-und-irgendwas-PS durch den Alublock. Krallen sich vorn 265er und hinten 335er-Reifen verzweifelt in den Asphalt. Am Scheitelpunkt meiner ersten Kurve gebe ich zu viel Gas. Brachial, aber ohne zu Schleudern, schießt der Wagen auf die nächste Kurve zu. Viel schneller als erwartet liegt sie vor den Rädern. Bremsen! Der Veyron liegt satt. Nickt nicht, schlingert nicht. Verzögert einfach brutal und lauert auf mein nächstes Kommando. Diesmal ist die Gerade nach der Kurve etwas länger. Ich will es wissen. Zweiter Gang, 50 km/h, Scheitelpunkt, beherzter und voller Druck aufs Gaspedal. Bang! – 145 km/h, 6500/min, Drehzahlbegrenzer. Der unglaublich radikale Vortrieb erzeugt das Gefühl, die Erdrotation bei jedem Vollgasbefehl ein wenig zu destabilisieren. Wenn Zeit bliebe, würde man in den winzigen, ovalen Rückspiegel schauen, und hoffen, dass die letzte Kurve es überlebt hat. Sie unter der einwirkenden Wucht nicht völlig zusammen gestaucht oder zur Geraden gedehnt wurde.
Doch der Veyron ist Jekyll und Hyde. Nie hat ein Automobilhersteller 1000 PS so schön als Geschenk verpackt. Nie pure Gewalt so gekonnt domestiziert. Denn wenn es der Fahrer nicht provoziert, lässt sich die Power so geschmeidig abrufen wie in einer Mercedes S-Klasse oder einem VW Passat. An deren Komfort kommt der Bugatti natürlich nicht ganz heran. Zwar dämpft das Fahrwerk ausreichend, doch es lässt den Fahrer nie im Unklaren über die Bodenbeschaffenheit. Vom brettharten Foltergerappel so mancher Sportwagen ist er allerdings meilenweit entfernt.
Wir cruisen stressfrei durch kleine Orte. Die Perspektive ist ungewohnt. Ich schwebe in 25 Zentimetern über den Boden, der Wagen ist 1,99 Meter breit, die seitliche Sicht durch stabile A-Säulen eingeschränkt. Einparken? Nun, mit etwas Übung… Aber auf linker Spur durch eine Autobahnbaustelle? Nur was für Menschen mit Drahtseil-Nerven. Auch die so genannten Speed-Bumps sollten möglichst zärtlich und langsam überfahren werden. Das kommt gelegen. Kein Augenpaar, das am Veyron nicht haften bleibt. „Das Selbstinszenierungspotential ist extrem hoch“, sagt Hilbig. „Auf der anderen Seite erfüllt der Wagen alle strengen VW-Qualitätsnormen.“ Gemeint sind Rüttel-, Crash- und Nässetests sowie endlose Erprobungsfahrten im Finnland und Namibia. Michelin hat als Reifenlieferant weder Kosten noch Mühen gescheut, und den Pilot Sport sowohl für den Topspeed als auch die Leistung des Veyron entwickelt. Und das für eine Kleinserie von maximal 300 Stück. Ganz nebenbei: 35 sind schon verkauft. Zwei davon übrigens an Frauen…
Diesen erlauchten Kundenkreis wird es kaum stören, dass in den Kofferraum gerade mal vier Flaschen Champagner passen, keine echten Winterreifen lieferbar sind, der Wagen bei Vollgas rund 100 Liter Super auf 100 Kilometern schluckt, er so viel kostet wie eine Villa, ein gutes Rennpferd oder dass ein Otto-Normalverbraucher rund 825 Monatsnettolöhne für ihn auf den Tisch packen müsste. Stellt sich die Frage, ob die Sportwagenflunder das wirklich wert ist.
Sagen wir es so: Der Veyron verschenkt seinem Fahrer sekündlich und auf Lebenszeit ein Gefühl, das jeder von uns kennt: Den Moment, als wir nach dem Erhalt des Führerscheins zum ersten Mal einen Wagen allein pilotieren durften. Und was die Sache mit dem Einkaufen fahren betrifft: Georges H. Keller hat Recht. Trotzdem würde ich meiner Frau den Veyron nicht anvertrauen. Sie würde nie zurückkehren… Denn neben allem Spass am neu definierten Abenteuer Automobil: Dieser Wagen ist eine stärkere Versuchung als ein lebenslanger Einkaufsgutschein von Chanel.

Fullmoon-Party auf Koh Phangan

Mondsüchtig

Seit rund drei Jahrzehnten feiern bis zu 10.000 Partypeople auf der thailändischen Insel Koh Phangan ein Mal im Monat Fullmoon-Party. Reporter Rolf Henniges hat einen Fan auf seinem 21. Trip dorthin begleitet.

Es ist eine Sucht“, sagt Hans, und seine Augen bekommen einen 1000-Meilen-Blick. Schweifen hinaus in die Ferne, durchdringen die schlierigen Fenster des Zuges, mit dem er die Strecke von Bangkok nach Surrathani im Süden Thailands zurücklegt. 750 Kilometer für zwölf Euro, 13 Stunden harren bei zehn oder zwölf Dosen Bier. „Wer diese Party ein Mal im Leben feiert, wird sie nie vergessen. Die wogende Menschenmasse morgens bei Sonnenaufgang ist reine Energie – davon zehrt man das ganze Leben. Die Fullmoon-Party wird zum Maßstab, an dem man anschließend jegliche Dance-Events misst…“

Hans, 52, wohnt in Köln, ist 1,90 Meter groß und wiegt 76 Kilogramm. Im Februar 2002 war er das letzte Mal im Fullmoon-Rausch. Seine grauen Haare trägt er lang, streng zum Pferdeschwanz gebunden. Wenn alles gut geht, wird der Kitsch- und Kunsthändler in sechs Stunden seine Tochter Sophie auf Koh Phangan wiedersehen. Am Strand von Hat Rin. Eingekeilt zwischen Tausenden Menschen, Freaks aus der ganzen Welt. „Wir treffen uns in der Mitte. An der Stelle, wo sie den härtesten Goa spielen“, hat er Sophie noch vor zwei Tagen am Telefon eingeschärft. Seine 23-jährige Tochter ist seit Monaten auf Asienreise. Derzeit weilt sie auf Phangan, der drittgrößten Insel Thailands, die zu 60 Prozent von Bergen und tropischem Wald bedeckt ist. Sie liegt im Golf von Siam und erwacht jeweils zu Vollmond an einem Abend aus dem Dornröschenschlaf – wird zum Mekka der Dance-Poeple.

Es ist ein langer Weg bis zum Wiedersehen. Drei Stunden Zugfahrt in Deutschland, 15 Stunden Flug, Zwischenstopp in Dubai. Und wenn der Zug aus Bangkok Surrathani endlich erreicht hat, geht es mit dem Bus zur Fähre, mit der Fähre nach Koh Samui und von dort mit dem Boot weiter nach Phangan. Die Insel selbst hat keinen Flughafen. Wer nur schnell zur Party will, landet am besten auf der Nachbarinsel Samui und nimmt dort ein Hotel. Zimmer sind auf Phangan um die Vollmondzeit – falls überhaupt vorhanden – kaum bezahlbar.

Hans ist Fullmoon-Experte, dies hier wird sein 21. Besuch. Er hat sich zu New Age und Techno in den Achtzigern inmitten vieler Israelis am Strand gewälzt, und ist in den Neunzigern, zu der Zeit von Rave, Trance und Goa gleich mehrmals im Jahr angereist. „Jeder fünfte Partygänger kam damals aus Israel“, sagt Hans. „Den Militärdienst überlebt, 2000 Dollar Abfindung in der Tasche, die Jungs wollten nur eins: feiern bis zum Exitus. Unter jeder Palme gab es Acid, Speed und LSD. Damit durchzucken selbst Untrainierte die ganze Nacht…Unter jeder zweiten Palme stand eine Nutte. Wie viel, wo und unter welchen Bedingungen Sex nachts am Strand stattfand, wird niemand glauben, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.“

Vor zehn Jahren glich der Transfer von Samui nach Phangan einem Abenteuer. Das Slowboot, eine Passagierfähre, die maximal 300 Menschen aufnehmen konnte, fuhr täglich zweimal. Um die zigtausend Besucher zur Partyinsel zu bringen, starteten Speedboote an fünf Stellen Samuis. Dabei gab es allerdings einige Probleme, denn nichts ist für Thailänder schlimmer, als das Gesicht zu verlieren. Cool muss man wirken. Cool muss man agieren. Vor allem als Fahrer eines Speedboots. „Die Überfahrten waren nüchtern oder ohne Drogen kaum ertragbar“, sagt Hans. „Bis zu 100 Menschen drängten sich aufs Boot, das für maximal 36 zugelassen ist. Anstelle von Rettungswesten gab es zwei Kühlboxen mit Bier. Unter tief hängenden Wolken war die Nacht oft schwärzer als ein Negerarsch und jeder trug Sonnenbrille. Jeder, auch der Fahrer.“

Der stand völlig high am Steuer, gab Vollgas, und 600 PS drückten den Kunststoffpfeil mit bis zu 120 km/h übers Meer. Direkt vor ihm, außen ans Fenster gelehnt, hockte der Beifahrer, dicke Sonnenbrille, Zigarette im Mundwinkel, und tat so, als würde er etwas erkennen… Doch in Vollmondnächten beißen die Fische besonders gut, das Meer wimmelt von Fischerbooten. Ihre roten Positionslichter sind funzelig und mickrig. Der letzte tragische Unfall, bei dem ein Speedboat ein Fischerboot zerfetzte, ereignete sich 2004: 32 Touristen wurden schwer verletzt, acht waren auf der Stelle tot. Einer großen deutschen Tageszeitung war die Tragödie sechs Zeilen wert. Und wie immer war die Thailändische Regierung darum bemüht, negative Schlagzeilen zu vermeiden. Wie immer waren die Bemühungen erfolgreich.

Seit dem Crash hat sich tatsächlich etwas verändert. Am Abend des 10. März zählt ein Mitarbeiter der Bootsgesellschaft peinlich genau ab: 36 Passagiere dürfen aufs Boot, 36 Rettungswesten sind vorhanden, jeder muss sofort eine überstreifen. Und noch etwas ist anders: Die Boote kommen bis zum Strand, an einigen Stellen gibt es sogar Anlegestellen. Vor ein paar Jahren war man gleich zu Beginn klitschnass, denn die Speedboote ankerten viel zu weit draußen. Nässe ist allerdings kein Problem – knapp die Hälfte aller Besucher trägt als Partyoutfit nichts weiter als Bikini, Badehose und Hautmalfarbe. Hans entscheidet sich für das Slowboot. Nachteil: Während die Speedboote die ganze Nacht hindurch zwischen Samui und Phangan pendeln und die Partymüden wieder mit zurücknehmen, fährt das nächste Slowboot erst tags darauf gegen halb Zehn.

Es ist eine sonnendurchtränkte Überfahrt mit leichtem Seegang. Das Durchschnittsalter der Passagiere ist Anfang 20. Kahl geschorene Männer mit bunten Hüten, wilden Bärten und tätowierten Muskelsträngen. Aufreizend spärlich gekleidete Frauen mit ansteckendem Lächeln und großen Erwartungen. Vorfreude und Alkoholkonsum verdichten sich zu einer ausgelassenen Stimmung. Das 40 Meter lange Boot wird zum Spielball der Wellenkämme. Rechts hängen zwei Japaner über der Reling und spucken. Links beschreibt ein Engländer, der in den Neunzigern angeblich jedes Jahr mindestens zwei Mal zur Party reiste, drei zartgliedrigen Australierinnen die nächtliche Atmosphäre: „25 DJs legen am endlos langen, schneeweißen Strand gleichzeitig auf. Die Köpfe von 10000 tanzende Menschen werden zu einem Weizenfeld, gepflanzt auf feinstem Sand, das der Wind zärtlich kämmt. Bestrahlt vom Vollmond, der wie ein gigantischer Flutlichtscheinwerfer über den Wellen schwebt. 25 verschiedene Sounds starten von hier ihre Reise aufs offene Meer, tragen die Nachricht hinaus in die Welt: tanzen, Frieden. Denn böse Menschen haben keine Lieder.“ Der Song Original von Leftfielt, gespielt auf der 1999er-März-Party sei ihm immer in Erinnerung geblieben: Eine bassige Woge wälzender Musik, die Wellenkämme glättet, Seelenwunden heilt und notfalls Tsunamis zurückwirft – nichts sei in seiner Erinnerung mächtiger, als jener Song damals in jener Nacht. In der Wiege der Freiheit. In den Armen jener Frau…

Das Schiff legt an, spuckt die Buntbemalten auf den Betonsteg des Minihafens, ein dickes Banner versperrt den Eingang zum Ort: Seit Neuestem muss jeder Teilnehmer, der mit dem Boot anreist, 100 Baht (rund zwei Euro) Gebühr zahlen. Damit werden angeblich verbesserte Sicherheitsleistungen finanziert…

18 Uhr. Die Sonne bestreicht die kleinen Gassen mit Honiglicht. An jeder Ecke türmen Einheimische so genannte Buckets auf: zwei Hände voll Eis, eine Dose Coke, ein Viertelliter Thai-Whiskey und ein Red Bull – vier Euro. Unter jeder dieser hundert Alkohol-Tankstellen hängt das Namensschild der Verkäuferin. Die sagt sofort: „He, wenn du heute abend nur bei mir kaufst, geb‘ ich dir Rabatt.“ Die feilgebotenen Alkoholmengen sind gewaltig, Hans kann es kaum fassen. Ein Typ aus Kanada, der seit zwölf Jahren in Bangkok lebt, erklärt: Bis Februar 2003 war alles relativ friedlich. Viele Gäste kifften. Oder nahmen LSD, Acid oder Speed. Durchhaltedrogen, mit denen man die Nacht durchtanzt oder einfach nur gut drauf ist. Dann rief Ex-Premierminister Thaksin den Krieg gegen Drogen aus. Von einem Tag auf den anderen war die Polizei judikativ wie exekutiv tätig und tötete in Nordthailand innerhalb von nur zwei Jahren rund 6000 Menschen. Verhaften, erschießen, einbuddeln. Kein Kreuz, keine Gerichtsverhandlung. Einfach so. Bumm! Die Anzahl der Toten wurde nie bestritten. Allerdings versuchte die Regierung, sie als Opfer rivalisierender Drogengangs zu verkaufen. Seither kursiert die Angst. Weiche, chemische Drogen sind vom Markt verschwunden. Alkohol ist angesagt, obendrein günstig, aber das eigentliche Problem. Schon mal erlebt, dass sich zwei Bekiffte prügeln? Geht auch nicht. Kiffen macht nicht aggressiv, sondern antriebslos. Und es sensibilisiert die Wahrnehmung. Musik wird zur wabernden Eintrittskarte ins Paradies. Viele Thais, Ex-Kiffer sozusagen, werfen jetzt Jaba ein. Ein billiges Zeug, das dich zehn Meter groß macht, schusssicher und unbesiegbar. Wenn du dann auch noch besoffen bist… Nein, seit die Dinge verschwunden sind, die dir ein Lächeln ins Gesicht meißeln, dich schweben lassen und zum Tanzen beflügeln, seit dem Krieg gegen die Drogen, regiert oft pure Gewalt. Morde, Messerstechereien und Schlägereien sind an der Nachtordnung. Und die Nacht ist lang.

22 Uhr. Party-Animal Hans staunt. Nicht mal ein Drittel des Strandes ist gefüllt. Acht Musikquellen zählt er. Und wenn es hochkommt, maximal 2000 Menschen. Zwischen den Partypeople gastieren Feuertänzer, jonglieren mit ihren brennenden Stangen, schleudern Ketten, an deren Ende Feuerkugeln baumeln, kunstvoll durch die Dunkelheit. Akrobatik. Gauklerfeeling. Strandjahrmarkt.

Mitternacht. Hans hat seine Tochter endlich getroffen, sitzt mit ihr am Strand, sie trinken Bier, plaudern, lachen. Hinter ihnen verweben die Djs ihre Beats zu einem Klangteppich, der über dem Sand wogt. Doch das Repertoire ist längst nicht so vielfältig wie in der Schilderungen der Party-Profis. Lediglich eine Bar hat sich für Trance entschieden, eine andere pumpt Techno hinaus, der klägliche Rest bedröhnt die Masse mit abgehalfterten Chartbreakern der Neuzeit. Die Szenerie ist teils grotesk: Menschen irren umher, halten sich verloren an Bierflaschen fest, liegen dösend oder besoffen im Sand, stehen pinkelnd in den Fluten, schieben eine kleine Digitalkamera am durch die Nacht oder beklatschen die Feuertänzer.

Zwei Uhr. Eine Handvoll Männer schwenken ein langes, brennendes Seil, über das ein Haufen Betrunkener springt. Oder es zumindest versucht. Der Geruch von versenkter Haut und verbrannten Haaren wabert über den Strand von Hat Rin. Daneben wird Feuerlimbo getanzt. Bierflaschen klirren, Stühle und Tische bersten. Betrunkene schreien Lieder, Verletzte nach dem Sanitäter. Der Strand ist gefährlich. Übersät mit Glasscherben, scharf wie Klingen. Das Sanitätszelt hält kilometerlange Mullbinden bereit. Drei Viertel der Besucher sind weiß, Norweger, Schweden, Deutsche, neuerdings auch viele Russen. Doch schätzungsweise 60 Prozent der Partypeople sind heute Engländer. Raufereien sind förmlich Pflichtprogramm. Parallelwelten auf 30 Metern: Links vom DJ kopuliert ein Pärchen im vermeintlichen Schatten des Boxenturms, rechts fetzt ein Langhaariger einem Glatzkopf die Vorderzähne raus. Schicksale, die im Lärm der Nacht untergehen.

Vier Uhr morgens. Muskelberge wanken, tiefbesoffene Jungs und Mädels taumeln und kreischen auf wankenden Tischen, Meerwasser umspült Alkoholleichen. Der Sandstrand hat zentnerweise leere Flaschen und unzählige Sandalen eingefangen. 400 Meter Luftlinie vom Auge der Party entfernt spielen sich makabere Szenen ab, denn der wilde, besoffene Mob will heim und steht am Pier. Doch es sind zu viele Menschen für zu wenige Boote. Gedränge. Schubserei. Schlägerei. Nach jedem Speedboot, das das Pier verlässt, sind wieder 40 Minuten warten angesagt. Jeder wedelt mit seinem farbigen Ticket, das ihn wieder heim nach Samui bringen soll. Ins Bett. Ins Trockene. Behütete. Friedliche. Flucht aus dem Lärm. Weg von der Aggression. Den Wunsch macht sich die Bootsmafia zunutze, ignoriert die Return-Option der Tickets, fordert nochmals dieselbe Summe für den Oneway. Und hat Erfolg. Völlig fertig, ist es den meisten Wartenden egal. 600 Baht – 12 Euro, was ist das schon? Zwei kleine Bier in Dublin, drei bunte Ilustrierte, ein Strandhuren-Quickie…

6.15 Uhr. Das Meer wirft die Zeugen der Party zurück. Kondome, Bierflaschen, Zigarettenstummel, Geldbörsen, BHs, Slips, Sandalen, Schnapsleichen… Der Horizont beginnt zu glühen, überstrahlt eine Sandebene, die Blut, Schweiß und Tränen getränkt haben. It’s a new day! Welcome him!

Fullmoon-Party-Profis der Neuzeit sprechen vom Schichtwechsel. Die Randalierer und Besoffenen haben sich getrollt, das Schlachtfeld verlassen. Bunte, frische, schrill bemalte Party-People klettern aus ihren Verstecken. „Forget about the nightshift“, brüllt ein wild bemalter Schwarzer mit blauer Perücke. „Now the real party beginns…“ Und tatsächlich, zwischen einem Haufen wieselflinker Aufräumer ranken sich die Tanzenden, lassen ihre Körper im Fluss der Musik beben. Sie zucken, wogen, kreisen, nicken. Trance, Goa, Rave – jetzt verschmilzt der Herzschlag mit dem Rhythmus der Beats, wird schneller, ebbt ab und pumpt extatisch. Hans und Sophie wiegen ihre Körper inmitten von rund 800 Hartgesottenen, der sogenannten Dayshift, während die Sonne wie ein aufgeschlagenes Ei am Himmel hängt und die Überlebenden begrüßt. Schweiß tropft. Mineralwasser stürzt die Kehlen hinunter. Niemand brüllt. Niemand ist noch da, der dir von der Seite zuflüstert: „He, man, wanna buy some dope or LSD? Or Jaba?“ Es gibt nur noch das Beben von Musik und Körpern.

Die Fullmoon-Party ist tot. Zumindest, was die Nacht betrifft. Es lebe die After-Fullmoon-Party im Backyard. Um 16 Uhr, nach zehnstündigem Tanz, ist Hans schweißüberströmt, sonnenverbrannt und drei Kilo leichter. Er schaut auf seine Tochter, die sich von den pumpenden Beats der DJs begatten lässt und spricht das aus, was alle hier denken: „Wer die Party in ihrer Urform erleben will, darf vor vier Uhr morgens eigentlich gar nicht hier sein.“ Seine Stimme klingt erschöpft. Aber unendlich glücklich.

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